Böhmische Dörfer (bis zum Gehtnichtmehr)

Ostsachsen/Tschechien: Pirna – Rathen – Porschdorf – Bad Schandau – Hřensko – Jetřichovice – Česká Kamenice – Klíč – Prácheň – Markvartice – Benešov nad Ploučnicí – Děčín – Elberadweg via Schmilka und Bad Schandau nach Pirna (152 km, 2044 Hm, als GPX herunterladen)

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Nach 120 Kilometern pausiere ich lieber liegend.

Wenn man nur nicht immer so leichtfertig die große Klappe hätte! “Ich habe uns eine Tour von etwa 100 Kilometern zusammengestellt – wenn wir in Bad Schandau starten”, hatte André gesagt. “Natürlich deutlich mehr, wenn wir es von Pirna angehen.” – “Ach klar, lass direkt von Pirna aus loslegen, dann müssen wir nicht noch extra mit dem Auto fahren”, hatte ich recht unüberlegt geantwortet, “das passt schon”.
Und nun liege ich ausgepumpt und schwer atmend in Schöna neben dem Elberadweg auf dem Boden, es ist dunkel und kalt, und ich habe keine Ahnung, wie ich es nach 120 bergigen Kilometern noch bis zurück nach Pirna schaffen soll.

Aber der Reihe nach: Auf meinen innig vorgetragenen Wunsch hat André eine Tour für uns zusammengestellt. Wohin genau es geht, weiß ich nicht, aber das macht überhaupt nichts: Schon 2011 hatte er eine wunderbare Ausfahrt ins Böhmische organisiert, und ich bin voller Vorfreude, dass es wieder so eine tolle Runde wird. Jannis und Julius sind auch dabei, das können sich die Buben einfach nicht entgehen lassen. Bester Dinge starten wir in Pirna und “rollern” das Elbtal hinauf der tschechischen Grenze entgegen. Allez, auf gehts!

Um uns den großen Elbbogen um den Lilienstein herum zu sparen, biegen wir in Rathen links ab. Allerdings bekommen die Waden so direkt die ersten recht knackigen Höhenmeter serviert. Nun sind wir warm! Leider gesellt sich zur Steigung das unschöne Gefühl, dass mein Hinterrad bremst – und tatsächlich läuft es wegen lockerer Speichen unrund und touchiert die Bremsen. Also Reparaturpause im Waltersdorfer Bushäuschen!

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Oberhalb von Hřensko: Der Wald ist weg.

In Bad Schandau erreichen wir dann wieder die Elbe, der wir zwischen beeindruckenden Felsformationen bis zur deutsch-tschechischen Grenze folgen. Hier, in Hřensko, verlassen wir das Elbtal und schrauben uns hinauf zum Prebischtor (Pravčická brána), einer spektakulären natürlichen Sandsteinbrücke. Hier kam ich 2006 schon einmal mit dem Fahrrad vorbei, als ich das Fahrradferienlager “Böhmen per Bike” betreute. Allerdings mussten wir seinerzeit erst noch ein ganzes Stück laufen, um das Prebischtor überhaupt zu Gesicht zu bekommen; jetzt ist es direkt von der Straße aus zu sehen. Schuld daran sind die verheerenden Waldbrände, die im Juli und August 2022 in der Böhmischen und Sächsischen Schweiz wüteten und mehr als 1000 Hektar Wald zerstörten, auch und ganz besonders im Gebiet um Hřensko. Die Hänge sehen nun wie eine Mondlandschaft aus, es wird dutzende Jahre dauern, bis hier wieder ein richtiger Wald steht.

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Kleine Suhle bei Všemily. Ein Abenteuer mit Straßenreifen und Klickpedalen!

Nach 40 Kilometern machen wir in Vysoká Lípa eine erste Rast. Hier geht das Elb­sand­stein­gebirge ins Lausitzer Gebirge (Lužické hory) über, was man deutlich an den Basaltfelsen und den typischen Um­gebinde­häusern sieht. Zwischen Všemily und Česká Kamenice schlägt André dann eine “Abkürzung” vor, die sich allerdings leider als recht schlammiger Wald- und Feldweg über den Berg herausstellt. Vermutlich wäre die Umfahrung auf Asphalt mit unseren Straßen-Velos die bessere Wahl gewesen, aber so erleben wir zumindest noch ein knackiges kleines Bonus-Abenteuer und schöne Ausblicke auf die Landschaft.

Kurzer Stopp am Discounter in Česká Kamenice, um die Vorräte aufzustocken, dann folgen wir dem Tal der Kamenice hinauf bis nach Kytlice. Während meine Beine leise beginnen, mir den noch recht überschaubaren diesjährigen Trainingsstand vorzuwerfen, sagt André wieder diesen gefährlichen Satz: “Jetzt müssen wir nur noch die Straße hier hinaufrollern!” Und schon wird der Anstieg steil und steiler, sodass ich irgendwann schlicht absteigen und ein Stück schieben muss. Das mitreisende Jungvolk ruft fröhlich “Allez!” und karriolt erbarmungslos an mir vorbei. Oh, diese Schmach!

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Blick auf den Jedlová; rechts der Tolštejn.

Zur Belohnung gibts dann aber noch eine nette Schussfahrt, und schon parken wir die Velos am Fuße eines markanten Kegels, der sich von weitem sichtbar deutlich aus der Landschaft erhebt: Es ist der Klíč, das eigentliche Ziel unserer Reise. Wir erklimmen ihn zu Fuß und genießen den Ausblick bei sensationeller Fernsicht. Uns zu Füßen liegen die (irgendwie sehr gleich aussehenden) Städte Nový Bor und Česká Lípa, weit hinten gehen die Tafelberge der Sächsischen Schweiz im aufziehenden Regen unter, und zur anderen Seite erkenne ich den Jedlová. Moment mal, ist das direkt daneben nicht …? – doch, es ist tatsächlich der Tolštejn, der mit seiner Burgruine über dem Städtchen Jiřetín pod Jedlovou thront. So manchen süßen Sommer verbrachte ich dereinst an diesem Wallfahrtsort meiner frühen Jugend!

Die immer näher kommende dicke Regenfront reißt mich dann aber aus meinen sentimentalen Erinnerungen. Hier oben auf dem ungeschützten Gipfel wollen wir wirklich nicht sein, wenn es zu schütten anfängt! Also packen wir unseren Kram zusammen und machen uns wieder an den Abstieg – allez! Leider ist das Wetter schneller und holt uns auf halber Strecke ein, nicht nur mit Regen, sondern auch mit einem veritablen Graupelschauer. Ein Glück, dass wir noch diverse Lagen Klamotten dabei haben, denn durch den Niederschlag ist es auf einmal auch ziemlich kühl geworden.

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(Fast-) Rundum-Blick vom Klíč. Leider gut zu sehen: Der von Westen heranziehende Regen.

Es ist schon 17 Uhr, als wir wieder auf die Räder steigen. Wir sind nun schon seit sieben Stunden unterwegs und haben ja doch erst die Hälfte der Strecke hinter uns; nun gilt es also, Meter zu machen! Die auf dem Hinweg erarbeiteten 400 Absolut-Höhenmeter können wir nun wieder hinunterrasen, aber natürlich stellt uns das Mittelgebirge erbarmungslos noch so manchen Anstieg in den Weg. Während die Jugend das nicht zu stören scheint, breche ich so manches Mal deutlich ein und krauche leise fluchend hinauf. Schöner ists natürlich auf den langen Abfahrten, wo ich (von André gnädig wind­schatten­unter­stützt) locker auch mal über vierzig fahre.

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Děčín am Abend. Viel zu sehen ist schon nicht mehr.

Die Täler der Bystrá und später der Ploučnice jagen wir hinab nach Děčín. Herrje, wie bin ich nach inzwischen deutlich über 100 Kilometern platt! Aber es nützt alles nichts, wir müssen entlang der Elbe ja noch nach Deutschland zurück. Ich zwinge mich, ein paar Kekse zu essen, und schon mahnt das offenbar unkaputtbare Jungvolk zur Weiterfahrt: “Nur noch 40 Kilometer – allez!”

Der Elberadweg ist meist bestens asphaltiert und bis auf wenige Ausnahmen faktisch steigungsfrei. Obwohl meine Körner schon deutlich zur Neige gehen, kommen wir richtig gut voran. Gern nehme ich das Angebot an, mich in den Windschatten der anderen zu hängen, und starre kilometerlang nur auf das jeweils gerade vor mir fahrende Rücklicht. Es ist inzwischen schon dunkel, sodass man von all der Sandsteinpracht, die links und rechts der Elbe in den Himmel wächst, eh nichts mehr sehen kann.

Direkt neben dem Radweg verläuft oben auf dem Damm die Eisenbahnstrecke, immer wieder brausen S-Bahnen und Güterzüge an uns vorbei. Plötzlich aber überholt uns ein Zug, der so ganz anders klingt als die anderen: Es stampft und schnauft, dann rattern Personenwaggons, und ganz am Ende kreischt heiser ein monströser Dieselmotor. Ich bilde mir ein, trotz der Dunkelheit dicke Rauchwolken über der Zuglok gesehen zu haben. Und als wollte sie sich persönlich bei uns vorstellen, lässt die Dampflok im Vorbeifahren einen satten, tiefen Pfiff durchs Elbtal rollen. Ob der Lokführer meine Antwort gehört hat, muss leider bezweifelt werden :)
Wie wir später herausfinden, war das die 01 0509 der Pressnitztalbahn, die an diesem Tag mit einem Sonderzug und 232 690 als Schublok das Erzgebirge umrundete.

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Kurz nach Děčín: ‘Nicht mehr weit, aaallez!’

Bei aller schönen Eisenbahn-Romantik: Meine Kraft ist aufgebraucht. Dass die Beine nach inzwischen 130 Kilometern schwer sind, Nacken und Arme weh tun und ich natürlich auch den Hintern recht deutlich merke, kenne ich von anderen Touren. Dieses Mal kommt aber eine bleierne Müdigkeit dazu, die ich so auf dem Rad noch nicht erlebt habe. Ich bin schlicht und einfach … tiefenentladen. (Ganz im Gegensatz zu Jannis und Julius, die laut darüber nachdenken, ob sie es wohl bis Mitternacht noch bis nach Radebeul schaffen könnten. Nur der Fuchs weiß, woher diese Burschen ihre schier unerschöpflichen Körner nehmen!)

Den verlockenden Gedanken, für die letzten Kilometer einfach in die nächste S-Bahn zu steigen, verdränge ich, bis endlich die Pirnaer Elbbrücke im Sichtfeld erscheint. Allez, wir sind am Ziel! Nach zwölf langen Stunden stelle ich das Fahrrad ab und verschlinge zwei große Portionen dampfend-leckere Nudeln, die vollkommen unerwartet aus dem Nichts vor meinem Gesicht auftauchen. Nach einer heißen Dusche ist dann aber wirklich Schluss: Ich falle ins Bett und schlafe umgehend wie ein Stein.

Ein paar Tage werde ich brauchen, um die Eindrücke dieser großartigen Runde einzusortieren. Sportlich war das natürlich ganz großes Kino: 150 Kilometer Strecke mit satten 2000 Höhenmetern fährt man nicht jeden Tag! Das Wetter hat (von einigen durchziehenden Schauern abgesehen) ziemlich ordentlich mitgespielt, und auch landschaftlich war der Tag ein echter Genuss. Wir hatten viel Zeit zu schwatzen und herumzublödeln, und ganz nebenbei traf mich ganz unerwartet ein wunderbarer Flashback aus längst vergangenen Zeiten.

Da hat sich meine große Klappe am Ende doch noch ausgezahlt – tausend Dank an die Buben für diese umwerfende Tour!